Mittwoch, 15. August 2012

Artikel: Léon der Unprofessionelle - Was Besson uns verschwieg

Wir hatten schon mal erwähnt, dass wir gerne unseren Lesern neue Perspektiven aufzeigen, die harten Fakten auf den Tisch knallen und Weltbilder zerstören. Das setzt natürlich voraus, dass wir erstmal unsere eigene, kleine, schön eingerichtete Traumwelt in den Grundfesten erschüttern, so dass wir die nächsten Tage damit verbringen, Daumen nuckelnd in einer Ecke zu hocken, hin und her zu wippen und "Warum?" zu schluchzen, während uns Tränen der knallharten Realität über die Wangen kullern. So haben wir neulich unser Gesamtbild des Films "Léon" zerstört, in dem wir das vollständige erste Skript gelesen haben.

Re-enactmant der Situation, nachdem wir das Skript gelesen hatten

Wer dieses Meisterwerk noch nicht gesehen haben sollte, schaut ihn sich sofort an, lobt ihn bis ins Unermessliche, liest danach diesen Artikel und hasst Besson für seine erschütternde, erste Intention des Films.


Zu Anfang sei gleich eine Sache klar gestellt: "Léon" ist ein absoluter Meilenstein. Regisseur Luc Besson hat hier bewiesen, dass er nicht nur ein großartiger Drehbuchautor ist, sondern auch auf dem Drehstuhl seinen Job ausgezeichnet macht. Die Geschichte ist tiefgründiger als der Pazifische Ozean, das Finale dramatischer als jegliches Shakespeare-Schriftstück und das Gesamtpaket ist überzeugender vermittelt als die Radiomitteilung "War Of The Worlds" von Orson Welles am 30. Oktober 1938. Falls Jemand anderer Meinung ist, sollte er auf alle Fälle weiter lesen. Wer gleicher Meinung ist: Das ist der perfekte Zeitpunkt, sich umzudrehen und diesen Artikel einfach zu vergessen.

Der Grundkern der Story ist, dass ein schüchterner, zurückgezogener Profikiller mit guten Herz nur die bösen Jungs abknallt und die kleine, 12 jährige Waise Mathilda aufnimmt, da ihre Familie vom durchgeknallten, korrupten Cop Stansfield ausgelöscht wurde. Mathilda zeigt Léon die schönen Seiten im Leben und gibt ihm damit einen Grund, dieses auch zu genießen. Dabei wird zwar impliziert, dass sie selbst in Leon verliebt ist, er es jedoch, ein Gentleman der er ist, ablehnt und beide eine Liebe wie zwischen Vater und Tochter praktizieren.

Mit dem winzigen Unterschied,
dass sie dabei Menschen umbringen

...aber was ist, wenn dieser ganze Grundkern absoluter Humbug ist?

No Women,  No Kids... but everyone else is okay
Wenn man dem ersten Skript glauben schenken darf, fangen die Änderungen des Films bei der Stelle an, wo Leon und Mathilda auf einem Dach positioniert sind und er ihr zeigt, wie man mit einem Scharfschützengewehr umgeht. Dabei schießen sie mit Farbkugeln auf einen willkürlich ausgewählten Jogger, welcher sich als offensichtlich hohes Tier herausstellt, da er gleich von mehreren Bodyguards umzingelt wird, woraufhin Leon und Mathilda das Training sofort abbrechen.


In der ersten Version passiert so ziemlich das Gleiche, nur mit dem Unterschied, dass Mathilda nicht mit Farbkugeln schießt, sondern mit echten Patronen.


Dabei sucht sie als erstes Opfer keinen Jogger, sondern irgend einen Typen, der gemütlich im Park seine Zeitung auf einer Bank liest. Als die ersten beiden Schüsse daneben gehen, nur die Holzbalken der Bank brechen und der ahnungslose Zeitungsleser immer noch nicht mitbekommt, wie ihm eigentlich geschieht, trifft sie beim dritten Anlauf, er sackt einfach nur in sich zusammen und Mathilda ist enttäuscht darüber, dass sein Ableben so unspektakulär ausfiel.

Aber das ist natürlich nicht genug Training für einen Tag und sie suchen sich ein zweites Opfer, was diesmal ein Geschäftsmann ist, dessen Gesicht in Mathildas Augen zu hässlich für diese Welt ist. Der Schuss landet jedoch in den Koffer, welcher explodiert und der verstörte Ahnungslose sich hinter einen Baum versteckt, worauf das 12 jährige Mädchen enttäuscht darüber ist, nicht einen weiteren, vollkommen unschuldigen Menschen abgemurkst zu haben.

Guess what? Das reicht natürlich immer noch nicht aus, denn der Erste hatte sich nicht bewegt, der Zweite ist nur im Schritttempo gegangen, also muss ein Dritter her, der auch rennt. Als sie das Opfer in Form eines Joggers (ohne Begleitschutz) finden, schießt Mathilda mehrmals daneben, was dieser jedoch nicht mitbekommt, da er Kopfhörer trägt, bis ihr Leon rät, mit dem Ziel zu gehen und jede Bewegung vorauszuahnen, woraufhin sie den Ahnungslosen ins Bein trifft.

Später bei Nacht, zeigt ihr Leon seinem mordlustigen Padawan, wie man in Häuser einbricht, wobei ein vorbeigehender, aufmerksamer Hausbewohner sie darauf hinweist, dass es recht fragwürdig wäre, einem Kind zu zeigen, wie man Türen knackt. Leon, den das herzlich wenig interessiert, ignoriert diesen nett gemeinten Hinweis, worauf der Mann damit droht, die Polizei zu rufen und ein "Anti-Aggressions Bomblet" zückt (wir wissen ehrlich nicht, was Besson damit meinte und warum ein Zivilist mit einer solch hochmodern klingenden Waffe ausgerüstet ist), woraufhin der gutherzige Killer mit einer schallgedämpften Pistole der selbsternannten Nachbarschaftswache kaltblütig in die Hand schießt, die Wucht den Körper um 180 Grad drehen lässt, noch einen Schuss in den Rücken abbekommt und sachte über das Geländer in einen Busch fällt, worauf Mathilda in dafür belobigt, wie brillant er diese Nummer abgezogen hätte.

Yay! Let's get postal!

Das Endresultat ist also ein psychisch Geschädigter, der sich fragen muss, warum man Scharfschützen auf ihn angesetzt hat, den Schock seines Lebens mit sich trägt, somit höchstwahrscheinlich eine Phobie resultiert, bei der er sich nicht mal mehr wagt aus dem Fenster zu schauen, geschweige denn überhaupt das Haus zu verlassen und um einen teuren Koffer ärmer ist, ein Krüppel, der nie wieder seinen Hobbys wie dem Joggen nachgehen kann und den Rest seines Lebens im Rollstuhl oder an Krücken verbringen muss, einen Toten, der einfach nur im Park seine Zeitung lesen wollte und einen weiteren Toten, der schlichtweg besorgt um die Erziehung eines Kindes war und um die Sicherheit des gesamten Wohnblocks.

Beim weiteren Verlauf des Trainings geht es sogar noch auf Tuchfühlung. Wieder wird statt Farbpatronen echte Munition verwendet, als sie beim Drogendealer einbrechen und ihn zur Hinrichtung ins Bad (statt ans Wohnzimmerfenster) stellen. Nachdem Mathilda den Schmutzfink mit ihrer Waffe anschießt, sackt dieser zu Boden, woraufhin Leon sie auffordert, einen zweiten Schuss aus nächster Nähe abzugehen, da die Doubletap-Technik nicht nur bei Zombies wirksam ist. Wie ihr befohlen wird, stellt sie sich neben das Opfer, drückt nochmals ab und bekommt Blutspritzer ans Shirt. Leon, sauer über den schlecht gewählten Winkel, zeigt ihr anhand des Toten, wie es richtig gemacht wird, was sich dann zu einer ziemlichen Leichenfledderei entwickelt.

Das erklärt natürlich dieses Vorspiel

Besson setzt dem natürlich noch eine Krone auf, denn als wäre es nicht schon genug, wildfremde, unschuldige Menschen zu töten, zu verkrüppeln oder den Schock ihres Lebens zu verpassen und aus Leichen ein Sieb zu basteln, spielen sie auch noch gerne mit dem eigenen Leben. Es gibt diese Stelle, an der Mathilda Leon damit beauftragt Stansfield zu töten und als er ablehnt, sie enttäuscht damit droht, sich mit einem Revolver zu erschießen, wovon er sie in letzter Sekunde abbringen kann. In der ersten Version war es jedoch nicht Mathilda, die vorschlug, sich die Knarre an den Kopf zu halten, sondern Leon... in einer illustren Runde "Russisches Roulette".

Warum? Um Mathilda zu zeigen, dass sie keine Angst vor dem Tod haben darf, denn wenn sie eine kaltblütige Killerin sein möchte (als hätte sie Letzteres nicht schon längst bewiesen), muss sie erst einmal dabei zuschauen, wie sich das Gehirn ihres Mentors über den gesamten Tisch verteilt und wenn das nicht klappt, sich das Ding selbst an die Schläfe halten und abdrücken.

Whatevs

Mathilda merkt sich das lustige Spiel, bis sie von ein paar Kids zum Baseball eingeladen wird, die sie vorher noch für "Sitzgebühren" abzocken wollten. Diese lachen sie im Verlaufe der sportlichen Aktivität dafür aus, was sie für ein "Mädchen" sei, woraufhin sie ins Apartment rennt, den Revolver auspackt und die Buben fragt, ob sie mal ein richtiges Spiel für große Jungs spielen möchten. Szenenwechsel zu Leon, der vom harten Tag nach Hause kommt und ein Polizeiaufgebot mit Leichentuch in Form eines Kindes vorfindet. Spoiler: Das Glück war auf ihrer Seite... duh!

Wer sich jetzt wundert, wie die aus der Sache wieder heil herausgekommen sind: Einer der drei Polizisten fragte Leon, ob er bitte seine Papiere sehen dürfte, was er aber mit drei Kugeln in drei Cops beantwortet und das Paar genüsslich in den Sonnenuntergang abzog. Natürlich hatte er vorher schon ein Massaker über mehrere Stockwerke angerichtet, als ihm die erste Streife keinen Einlass ins Gebäude erlaubte, aber auf die paar tote Beamte mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.

Stansfield ist noch durchgedrehter als angenommen
Gary Oldman konnte vor seiner Zeit als Commissioner Gordon den Bösewicht wie kein Anderer spielen und in der Rolle als Stansfield war er nie besser und überzeugender. Jedoch war dieser Part ursprünglich wesentlich grausamer, kälter und verrückter, als das was gezeigt wurde.

Say what?
Schon zu Anfang, als Stanfield die gesamte Familie von Mathilda auslöschte, war klar, der Typ macht nicht mal vor kleinen Kindern halt, was jedoch später, als er und seine Truppe Leon auf der Spur sind und Tony verhören nur noch klarer wird. Als er wissen möchte, wo dieser Spitzbub sich aufhält, der sein halbes Team auslöschte, erschießt er während des Gespräches einen seiner eignen Männer kaltblütig, weil dessen Gesicht zu deformiert war, nur um danach einen von Tonys Angestellten zu erschießen. Mitten in einem kleinen Cafe. Als Polizist. Auf einem Kindergeburtstag. Haben wir erwähnt, dass er Tony fragt, welches der Kinder er am wenigsten leiden kann, damit er ihm den Gefallen tun kann, das jeweilige Kind dann zu ermorden?

Die wesentlich logischere Rollenverteilung des originalen Skripts

Kinder zu töten ist schlecht, aber...
So what? Gegen Ende von "Leon" werden dutzende unschuldiger Polizisten getötet, die einfach nur auf Befehl des durchgeknallten Stansfield gegen den Profikiller vorgehen. Dann haben wir hier halt ein kleines "Natural Born Killers"-Szenario am laufen. Big fucking deal. Nun, der internationale Directors Cut hat uns ein paar mehr Szenen offenbart, die eine gewisse sexuelle Spannung zwischen den beiden Hauptprotagonisten beherbergten, die im originalen Skript noch viel weitreichender waren, als die zusätzlich gezeigten Ausschnitte.

Wir spulen auf die Stelle zurück, an der Mathilda Leon ihre Liebe zu ihm gesteht, er das ablehnt und zu seinem nächsten Auftrag flüchtet, um der unangenehmen Situation aus dem Weg zu gehen. Dazwischen ist noch etwas wesentlich essenzielleres passiert, nämlich ein kleiner Monolog ihrerseits, welcher offenbart, sie würde es hassen, wenn er geht, ohne ihr einen Abschiedskuss zu geben.

Das hört da aber nicht auf. An der Stelle im Restaurant, wo sie ihn darum bittet, ihr einen Kuss zu geben, lässt sie sich nicht einfach so abwimmeln, sondern beharrt so energisch auf diesen Kuss, worauf er - nach einer kurzen Szene vor all den anderen Gästen - einwilligt und sie ihn anschließend dazu auffordert, auch die Zunge mit ins Spiel zu bringen, dabei diabolisch grinst und er sie letztendlich doch noch wegstößt.

Natürlich hat das Publikum an der Stelle nicht schon längst genug von der kleinen Lolita. Nachdem Leon das erste Mal seit langer Zeit wieder in einem Bett erschrickt aufwacht, assoziiert der Zuschauer, es wäre deswegen, weil er sonst in einem Sessel in Chuck Norris Manier über alles wacht, er also nie wirklich gemütlich ausschläft. Was passierte aber vor der ganzen Sache wirklich, dass er so panisch neben Mathilda aufwacht?

Nun, ihr könnt es euch sicherlich schon denken.


Die kleine Portman schafft es laut Skript doch tatsächlich, Leon davon zu überzeugen, mit ihr wilden, hemmungslosen Sex zu haben, in dem sie das von ihm gekaufte Kleid anzieht, ihm einen Tropfen Milch von den Lippen streicht und sich selbst einverleibt, seine Brust liebkost und beichtet, sie wolle vom "Richtigen" entjungfert werden, was er unter Tränen mit der Erzählung über seine Vergangenheit und seiner ersten Liebe beantwortet - und dann das folgt:

Wir hatten euch gewarnt

Aber... aber der Schluss bleibt gleich?
Fast. Es gibt kleinere Unterschiede, wie zum Beispiel, dass sich Mathilda selbst aus den Klauen des Sonderkommandos, dass das Apartment umstellt, befreien kann, in dem sie eine versteckte Waffe zückt und selbst eine Geisel nimmt, aber bis hin zu der Stelle, als Leon in die Freiheit zu flüchten, bleibt so ziemlich Alles wie gehabt. Doch hier kommt der wirklich harte Part.

Leon überlebt den Schuss von Stansfield nicht, sondern stirbt sofort in der dramatischen Slow Motion Sequenz, worauf der zufriedene Cop hinaus stürmt, die Faust nach oben streckt und seinen Sieg der Stadt verkündet. Das sieht Mathilda natürlich, schnappt sich Leons Jacke, erschießt auf ihrem Weg noch zwei Polizisten (alte Laster wird man nicht so schnell los), gibt der Leiche von Leon einen Abschiedskuss (...), um Stansfield einen kleinen Gegenstand zu zuwerfen, welcher erst merkt, dass es sich hierbei um den berüchtigten "Ring-Trick" handelt, als sie den Mantel mit diversen versteckten Granaten öffnet.


Cheers,
Chris

Wer diese Offenbarung des originalen Skripts von Luc Besson überhaupt nicht verkraftet, der teilt uns seine Empörung auf der Facebookseite von We Ain't Geeks mit und kann sich an unserer aktuellen Großbstellung an diesen Blitzdingern aus M.I.B. beteiligen.


Quelle:
scifiscripts.com

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